Dienstag, 3. Juni 2008

... nach unbekannt abgewandert ...

Wir wissen, daß Tausende und Tausende von vor allem jüdischen Menschen aus Deutschland und Millionen aus ganz Europa in Vernichtungslager abtransportiert wurden. Aber dieses Wissen bleibt abstrakt, sobald nicht ein konkreter und lokaler Bezug zu dieser Lebensvernichtungsstrategie der 12 Jahre lang herrschenden deutschen Faschisten hergestellt wird.

Es gab eine Initiative, diesen lokalenBezug herzustellen: die seit einigen Jahren in deutschen Städten verlegten Stolpersteine ließen wissen, in welchem Haus welche Menschen lebten, die in Vernichtungslager deportiert wurden.

Und erst so erfuhr ich nach Jahrzehnten, daß gegenüber dem Haus, in dem ich groß wurde, in der Braunschweiger Lützowstr. 6, mehrere jüdische Familien gewohnt hatten, an deren Verfolgung und Deportation man heute durch diese Stolpersteine erinnert:

Seltsamerweise gibt es in München bis heute keine Stolpersteine. Die Stadtverwaltung, dem Argument folgend, daß es nicht der Würde der Deportierten entspräche, auf den ihnen gewidmeten Pflastersteinen herumzutrampeln, untersagte diese.

Heute wurde im Münchner Stadtteil Sendling ein neuer Versuch gestartet, der zwischen 1938 und 1942 staatlicherseits begangenen Verbrechen zu gedenken: die Kunstinstallation von Wolfram P. Kastner zur Erinnerung an deportierte und ermordete jüdische Nachbarn in Sendling.

Der Titel, den man dem ganzen Projekt gab, ist: ... nach unbekannt abgewandert ...; das ist eine Anspielung auf die Penibilität und zugleich Zynismus der Bürokraten, die in den Stadtverwaltungen die Einwohnerregister führten: die Akten oder Karteikarten derer, die mit dem Ziel ihres Todes deportiert wurden, schlossen sie mit Vermerken wie "nach unbekannt abgewandert" oder anderen lügnerischen Formeln schlossen.

19 Häuser gab es im Stadtteil, in denen Menschen gezwungen wurden, Ihre Wohnungen zu verlassen und von ihrer Habe zurückzulassen, was nicht in einen einzigen Koffer paßte. Die Kunstinstallation wählte als Ausdrucksform diese Koffer und stellte sie heute als weiße Koffer vor 4 Häusern auf, aus denen die Menschen damals vertrieben wurden:

Ich wohne im Haus "Am Harras 14" - bis heute wußte ich nicht, was vor einigen Jahrzehnten zwei Häuser nebenan geschah.- Vor diesem Haus sieht die Kunstinstallation so aus:

Neben den weißen Koffern werden auf Schrifttafeln die Biographien der ehemaligen Bewohner des Hauses beschrieben. Anhänger an den weißen Koffern nennen die Namen des Bewohners sowie den Ort und Zeitpunkt ihrer Ermordung:

Vor Häusern, aus denen mehr Bewohner verschleppt wurden, stehen entsprechend mehr Koffer:

Die die Installation begleitenden Texte wurden von der Initiative "Historische Lernorte Sendling" erarbeitet; zum Beispiel diese Tafel:

Hier ein Ausschnitt dieser Texttafel, die einen zum Nachdenken über die an dem Schweigen des damaligen Papstes zur Judenvernichtung vorgebrachte Kritik zwingt:

All das wurde heute in einer Veranstaltung der Volkshochschule der Öffentlichkeit vorgestellt. Es sprach Ernst Grube, ein Zeitzeuge, sogar mehr als das: ein Überlebender, denn er ist jüdischer Abstammung. Aus Salzburg waren die drei Mitglieder der The Klezmer Connection gekommen, um nicht nur die Veranstaltung musikalisch zu begleiten, sondern auch den abschließenden Rundgang, auf dem alle 4 Stellen, an denen weiße Koffer plaziert worden waren, besucht wurden:

Vor jedem der 4 Häuser wurde die Biographie der deportierten Bewohner verlesen, jedes Mal eingeleitet und abgeschlossen durch einen Beitrag des Klezmer-Connection-Trios.

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die mit dem Projekt verbundenen Kosten aus städtischen Geldern bestritten wurden.

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